Lando Norris hat noch eine Chance auf den Fahrertitel in der F1, doch wie realistisch ist sie? - Bildquelle X @mclarenf1
Mclaren holte jüngst einige Pokale nach Woking – Bildquelle X @mclarenf1

6 Rennen in Folge konnte Max Verstappen nun keinen Rennsieg verbuchen. Nachdem er 2023 insgesamt 20 von 23 Rennen gewinnen konnte, scheint das nahezu unglaublich, doch die Red Bull-Dominanz ist endgültig vorbei und damit schließt die Konkurrenz kontinuierlich auf – vor allem in Form von Ferrari und Mclaren, denen in der Konstrukteursmeisterschaft nur noch 8 bzw. 39 Punkte fehlen. Doch wie schaut es in der Fahrermeisterschaft aus?

 

Norris ist Verstappens schärfster Verfolger

Trotz starkem Mclaren wird der Abstand zu Verstappen nicht kleiner – Bildquelle X @mclarenf1

Insbesondere Mclaren scheint seit dem sechsten Saisonrennen in Miami auf einem mindestens ähnlichen Niveau wie Red Bull zu operieren und stellt meist gar das schnellere Auto. Vor dem Rennen in Miami betrug der Abstand von Verstappen zu Norris 52 Punkte. In Anbetracht dessen, dass seither 11 Rennen stattgefunden haben, in denen Mclaren mindestens gleichauf gewesen sein dürfte, müsste von diesem Abstand folglich wenig übrig bleiben. Das wäre eine berechtigte Annahme, doch die Realität sieht weniger schmeichelhaft für das mittlerweile stärkste Team der Formel 1 aus. Mclaren holte dank schwacher Performances von Sergio Perez im Red Bull kontinuierlich in der Konstrukteursmeisterschaft auf und verringerte die Lücke von 99 auf nur noch 8 Punkte, doch in der Fahrermeisterschaft wuchs der Abstand seither auf 62 Punkte. Das sind immerhin noch mehr als zwei Rennsiege, die zwischen Norris und Verstappen liegen.

 

Die Frage, die sich viele Fans in der Formel 1 nun stellen ist, ob Mclaren sämtliche Karten auf Norris setzen sollte oder ob der Ansatz Mclarens sinnvoller ist, beide Fahrer frei gegeneinander fahren zu lassen. Mein erster Impuls im Sinne einer spannenden Meisterschaft ist: Ja, definitiv! Doch inwiefern das sinnvoll oder “fair” wäre, erörtere ich im Folgenden.

Max Verstappen ist die Spitze der F1

Verstappen ist nahezu immer am Optimum – Bildquelle X @redbullracing

Ein Faktor, den man zur Beurteilung dieser Frage hinzuziehen muss, ist Max Verstappen. Dieser glänzte vor allem in der Zeit seit 2022, seit Einführung der Ground Effect-Autos und fährt meistens in einer eigenen Klasse. Die Tatsache, dass der Abstand in der Fahrermeisterschaft seit Ende der Dominanz seines Teams größer statt kleiner geworden ist, ist vor allem auf seine brillanten Performances zurückzuführen. Kein Zweiter performt wie der Niederländer, der sich zwar in hitzigen Teamradios jüngst merklich nervöser zeigt, da bei Red Bull mittlerweile jeder merkt, dass es mit beiden Meisterschaften schwieriger werden könnte, aber dennoch meist zur Stelle ist, wenn es was zum Abstauben gibt.

 

Das Paradebeispiel hierzu ist das Rennen in Silverstone, bei dem Verstappen im nur drittstärksten Fahrzeug Zweiter wurde – vor WM-Rivalen Norris. Trotz mancher Fehler auf der Strecke, so ließ Verstappen Punkte beim Ungarn GP liegen, gilt bei Verstappen derzeit, dass man auf dem höchsten Niveau arbeiten muss, um diesen zu besiegen. Das könnte einerseits ein wenig hoffnungserweckendes Szenario für Mclaren sein, da sie ohnehin mit Rückstand zu Verstappen arbeiten müssen und ihre Fehleranfälligkeit derzeit zu hoch für einen astreinen WM-Kampf ist, doch andererseits könnte man argumentieren, dass Verstappen nur besiegt werden kann, wenn man alle Kräfte gegen ihn vereint. Nach letzterer Schlussfolgerung müsste man Norris vollends unterstützen.

Lando Norris ist (noch) kein Spitzenpilot

Die soeben genannten Fehler von Mclaren sind zahlreich und haben definitiv einige Punkte im Kampf gegen Verstappen und Red Bull gekostet. Hierzu zählen teils zu konservative Strategien, die z.B. eine Siegchance in Catalunya verhindert haben. Zudem hat man sich beim Regenroulette in Silverstone verzettelt und Norris im letzten Stint nicht auf dem eindeutig schnellsten Reifen – den frischen Medium – rausgeschickt und über den Schlamassel, den sie Piastri eingebrockt hatten, müssen wir gar nicht reden. Doch auch Norris zeigt eine derzeit noch recht hohe Fehlerdichte und nutzt nicht das volle Potenzial des Pakets. Vereinzelt kosten ihn schwache Qualifyings wertvolle Punkte, so zum Beispiel in Monaco, als er sich auf P4 und Piastri sich auf P2 qualifizierten.

Oscar Piastri lernt in großen Schritten – Bildquelle X @mclarenf1

Und wenn es mit dem Qualifying funktioniert, so passt die erste Rennrunde nur selten. Norris hat 2024 nur eines der 4 Rennen, in denen er von Pole gestartet ist, auch tatsächlich gewonnen. Er verlor die Führung bei sämtlichen Pole-Starts in Catalunya, am Hungaroring, in Zandvoort und zuletzt in Monza. In Zandvoort konnte er im weiteren Rennverlauf durch den übermächtigen Mclaren wieder an die Spitze fahren. Auf den anderen Strecken gelang dies nicht oder nur bedingt. Hier ließ Norris einige sichere Punkte liegen.

Bei den Starts wirkt Norris teilweise recht tollpatschig, doch auch nach Runde 1 passieren ihm manchmal kostbare Faux-Pas. In Silverstone ist zu verzeihen, wenn er nicht die richtige Reifenwahl trifft, weil er bei wechselhaften Bedingungen im Dreikampf gegen Hamilton und Verstappen unter so einem Druck steht, dass das Team ihm diese Entscheidung abnehmen müsste. Doch die schwach geführten Zweikämpfe gegen Verstappen im Sprint und Rennen von Österreich gehen vollends auf seine Kappe. Im Sprint überholt er Verstappen zwar entschlossen, verteidigt sich auf der Folgegeraden aber so lasch, dass Verstappen direkt wieder vorbeizieht – und zu allem Überfluss rutscht auch Piastri an Norris vorbei. Gewinnt Norris den Sprint, holt er zwei Punkte mehr und Verstappen einen weniger, also 3 Punkte im Direktvergleich. Überholt er Verstappen im späteren Rennverlauf einmal entschlossen und sauber, statt mehrfach verzweifelte Divebombs zu starten, die allesamt missglücken, holt er 25 Punkte und Verstappen nur 18 Punkte statt dass Norris Konto ohne Punktzugewinn bleibt, während Verstappen noch 10 Punkte holt.

In Zandvoort war Norris unschlagbar – Bildquelle X @mclarenf1

Dem gegenüber stehen natürlich starke Vorstellungen wie jene in Zandvoort. Doch rechnet man allein die Punkte zusammen, die Norris durch eigene Schwächen oder Fehler verloren, oder bei denen er den Verlust provoziert hat (Spielberg), so kommt man seit Miami auf fast liegengelassene 50 Punkte. Der Rückstand von 62 Punkten wäre also trotz Fehler seitens Mclaren deutlich kleiner. Klein genug, um Verstappens Chancen in der Fahrermeisterschaft auf nahezu Null zu schätzen, sollte Red Bull nicht die große Überraschung gelingen.

 

 

Wie viel hätte die Teamorder Norris bisher gebracht?

Das Ansehen der sogenannten Teamorder in der Formel 1 hat sich seit einigen Jahren gewandelt. Damals gab es lautstarke Kritik, als Rubens Barrichello einen ohnehin schon dominanten Michael Schumacher passieren lassen musste oder als Felipe Massa Fernando Alonso 2010 durchlassen musste. Als jedoch 2018 Kimi Raikkönen frei gegen Sebastian Vettel fahren durfte, obwohl nur der Heppenheimer ernsthaft im WM-Kampf involviert war, war die Kritik bei der ausbleibenden Teamorder laut. Und auch 2024 gibt es einige Leute, die von Mclaren fordern, Oscar Piastri in den Dienst von Lando Norris zu stellen, sofern man beide Weltmeisterschaften gewinnen möchte. Mittlerweile glaubt sogar die eigene Teamspitze an eine Chance, die Fahrermeisterschaft zu gewinnen.

Wie hilfreich hätte Piastri seinem Teamkollegen sein können? Wie hilfreich wird er noch? – Bildquelle X @mclarenf1

Tatsächlich hätte Norris seit Miami nur wenige Punkte durch einen kooperationsfähigen Piastri gewinnen können. Und zwar exakt 10. Sieben Punkte beim großen Preis Ungarn und drei weitere, hätte man einen Platztausch in Monza vollzogen, wo Piastri jederzeit klar vor Norris und bis zuletzt um den Sieg gegen Charles Leclerc gekämpft hat. Eines ist gewiss: Eine Teamorder ist stets ein kleiner Riss ins Selbstbewusstsein des Fahrers, gegen den sie ausgesprochen wird. Vermutlich sieht Mclaren in Piastri einen mindestens genauso erfolgsversprechenden Piloten wie in Norris, auch wenn der Australier derzeit noch ein paar Defizite gegen seinen britischen Teamkollegen aufweist. Aber vielleicht wird Piastri bereits 2025 um den WM-Titel mitfahren und braucht jeden erdenklichen Selbstvertrauensboost, um den – wie zuvor betont – so starken Max Verstappen vom WM-Thron zu stürzen. Denn mit all den Fehlern, die Norris dieses Jahr gemacht hat, bleiben zwei Fragen offen. Kann Norris dem WM-Druck über eine Saison standhalten, wenn ihm bereits die Verfolgerrolle, bei der durch den hohen Rückstand keine Erwartungshaltung an ihm besteht, schon zu Kopf steigt? Und wenn jemand so unstet performt, dann stellt sich noch eine abschließende ungemütliche Frage: Verdient Norris Teamorder zu seinen Gunsten und zu Lasten von Oscar Piastris aktueller und zukünftiger Form? Ich denke nicht.